Liebe kann man nicht delegieren

Wenn die protestantische Christenheit dem neutestamentlichen Modell in muslimischer Umgebung entsprechen würde, dann könnte man dort Gemeinschaften sehen, wie sie ihr gemeinsames Leben auf Gott ausgerichtet führen, indem sie die Vollendung erwarten und erhoffen und indem sie die gute Botschaft des Evangeliums in ihrer muslimischen Umgebung proklamieren. Zur gleichen Zeit sorgen sie durch Gnadengaben für die legitimen Nöte ihrer eigenen Mitglieder.

Was würde das für einen Muslim bedeuten? Aus der Proklamation und aus dem Leben dieser Gemeinschaft würde er verstehen, daß kein Christ die Absicht hat, einen theokratischen Staat zu bilden. Er würde aber auch lernen und sehen, daß, ein Bruder in Christus zu sein, mehr als eine fromme Phrase ist. Wenn er die Botschaft des Evangeliums hören und annehmen würde, dann würde er sich einer Gemeinschaft anschließen, in der er Verbundenheit mit anderen erfahren und sich deswegen auch sicher fühlen könnte, soweit das überhaupt möglich ist.

Aber bisher ist mir dies noch nicht als Ergebnis westlicher Mission begegnet. Einstweilen leben Sie und ich und ungezählte andere Heilige, die zu dieser engen Gemeinschaft gehören, die auf die endgültige Antwort Gottes auf die Sünde warten, innerhalb einer muslimischen Umgebung. Wir gehören außerdem zu einer Familie, einem Stamm, einer Nation, einer Gewerkschaft, einem Club, einer kulturellen Gesellschaft, einer politischen Partei, in welcher um uns herum lauter Muslime sind. Da entsteht natürlich die Frage: Welche Berührungspunkte haben die Heiligen mit der Welt in ihren persönlichen Beziehungen? Ein Berührungspunkt ist das Zeugnis.

Wir sagten bereits: Das Zeugnis ist nicht wie Predigen oder Lehren eine Gnadengabe, sondern eine allgemeine Verpflichtung für alle Glieder der christlichen Gemeinde. Das Zeugnis besteht zuerst einfach in der Tatsache der Zugehörigkeit, also der Lebensführung innerhalb der Gemeinschaft, die durch die Verkündigung entstanden ist. In jedem Bereich des Lebens kann der Weise und der Törichte, der Emir und der Fakir, der Gute und der Gleichgültige, jeder einzelne Heilige mit der Welt in Berührung kommen, um hier Zeugnis zu geben. Und keine Organisation, keine offizielle Kirche, kein Kleriker kann einen einzelnen Christen von dieser Verantwortung freisprechen.

Der Berührungspunkt des einzelnen Christen mit der Welt ist im Neuen Testament sehr klar mit den Worten beschrieben: Du sollst Deinen Nächsten wie dich selbst lieben.

Dieses Gebot, den Nächsten zu lieben, verlangt individuelle Verantwortung zweifacher Natur: Zuerst einmal bist Du, der einzelne Heilige, verantwortlich, mit Deinem Stand und Deiner Lage etwas anzufangen, was es nun auch ist. Zweitens bist Du verantwortlich für das, was Du nun tust. Du kannst Dich einer bürgerlichen Gruppe anschließen oder einer Gruppe von Christen, die für bessere Gesetze agitiert; Du kannst Dich einem Club anschließen, der Kultur verbreiten will; Du kannst mit anderen zusammenkommen und gegen Unwissenheit und Krankheit kämpfen; Du kannst auch einen Tennisclub aufmachen und Sport und Gymnastik fördern. Was immer auch Du tust, Du bist es, der Einzelne; und Du tust, was Du für richtig hältst in der jeweiligen Situation, in der Du Dich befindest. In einem muslimischen Land können diese Organisationen voller Muslime sein. Dann lebst Du mitten unter ihnen als ein einzelner Christ, auf Deine eigene Verantwortung hin. Denn das Gesetz der Liebe kann man nicht in Paragraphen fassen.

Wir erkennen an, daß in manchen Fällen der einzelne Christ mit gutem Recht der Meinung ist, daß er aus Nächstenliebe heraus sich mit Nichtchristen zusammentut, um das Leben etwas lebenswerter für andere zu machen. Aber es kann doch gar keinen Zweifel geben, daß die Bedeutung des Liebesgebotes den einzelnen Christen in seinen ganz persönlichen Beziehungen zu den Bedürftigen an seiner Schwelle betrifft. Wir wollen dieses Gebot in seiner ursprünglichen Fassung betrachten.

Ein Theologe wollte wissen, ob unser Herr auch Bescheid über seine eigene Verkündigung geben konnte; so stellt er die Frage: Was soll ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Die korrekte Antwort ist enthalten in dem doppelten Gebot, Gott und den Nächsten zu lieben. Diese Weise, es auszudrücken, war weder neu noch überraschend. Aber nun will der Theologe eine genauere Definition des Partners der Liebe, und er fragt "Wer ist denn mein Nächster?" Die Ausdruckskraft des griechischen Wortes "plesios" ist verloren, wo es wie im Englischen mit "Nachbar" übersetzt wurde. Der Nachbar, das ist jemand, der im Haus nebenan oder gegenüber wohnt; und das ist genau das, was das griechische Wort nicht sagt. Im Griechischen gibt es andere Worte, mit denen man den Mann bezeichnen kann, der im Haus nebenan wohnt. Aber der "plesios" ist nur einer, der jetzt gerade da ist. Du sollst den Menschen lieben, der Dir am nächsten ist, der jetzt gerade an Deiner Seite ist. Dies Gebot hat ganz eindeutig nichts mit einer sozialen Ethik der Nachbarschaft zu tun.

Weil unser Herr dem Theologen sagte, daß die korrekte Antwort sei: Liebe Gott und den Mann an Deiner Seite, so stellte der Theologe sofort die schwierige Frage: Wie kann man dieses Konzept "der Mann an meiner Seite" genauer definieren? Diese Frage beantwortete unser Herr, indem er die Geschichte vom guten Samariter erzählte. Ihr Aufbau zeigt uns mit aller Klarheit, wie sie sich an den einzelnen wendet.

So erscheint das griechische Wort "synkyria", "zufällig", nur an dieser einen Stelle im ganzen Neuen Testament. (Luk 10,31). Unser Herr hielt von Zufällen eigentlich nichts und konnte sogar sagen, daß die Haare unseres Kopfes alle gezählt sind und nicht ein Sperling auf die Erde fällt ohne den Willen seines Vaters; hier sagt er: "zufällig"! Und weiter: Warum nahm unser Herr gerade diesen Fall eines Mannes, der unter die Räuber gefallen war, warum nicht den Fall eines Armen, Kranken, Unterdrückten? War das nicht der Griff nach einer Situation, mit der man vorher nicht rechnen konnte? Ein einzelner ist zufällig in die Nähe eines anderen geraten, und in dieser Lage hat er das von Gott gegebene Gebot zu erfüllen.

Der Theologe wollte eine Regel, ein Prinzip, eine Handlungsanweisung gegen die überraschenden Möglichkeiten des Lebens. Aber Jesus sagt: Nein! Wenn Du die rechte Haltung gegenüber Gott hast, dann wirst Du in jeder gegebenen Situation, in der Du Dich findest, erfahren, was Du zu tun hast.

Indem unser Herr den Samariter den Helden der Geschichte sein ließ, sagte er etwas, was die frommen Juden nicht hören wollten. Zur Zeit Jesu gab es unter den Juden etwas, was wir heute Kastensystem nennen würden, wodurch einige Leute von engeren Verbindungen mit den Übrigen ausgeschlossen wurden. Es gab bestimmte Gesetze und Sitten, die von einigen gehalten wurden und von anderen nicht, und derjenige, der diese Gesetze einhielt, würde den nicht besuchen, der sie nicht einhielt. Er würde ihn nicht einmal berühren. Jeder, der ein bißchen über das Kastensystem und die Unberührbarkeit in Indien weiß, kann das Problem, das damals bestand, ganz gut verstehen. Es war nicht das Liebesgebot, das die Schwierigkeiten machte, sondern es waren all die anderen religiösen Regeln, die festlegten, wer nur der Nachbar sein konnte. Aber weil nun das Leben durch so viele Regulierungen eingeengt war, gab es immer Fälle, in denen man im Zweifel war. Deswegen war der Theologe so darauf aus, eindeutigere Bestimmungen zu erfahren. Man könnte sich vorstellen, wie ein Hindu, der einen Unberührbaren in der gleichen Situation sieht, der unter die Räuber gefallen, lamentiert: "Armer Kerl! Er braucht Hilfe. Wenn nur jemand von seiner eigenen Kaste da wäre, um ihm zu helfen, da ich ihn nicht berühren darf!" Der Hindu lebt das Leben nicht direkt; er antwortet nicht auf die Situation, in der er sich findet, sondern er lebt ein Leben, das durch bestimmte religiöse Regeln festgelegt ist. Er gehorcht diesen Regulationen, nicht den Forderungen, die in der konkreten Situation liegen.

Stellen Sie sich einmal vor, unser Herr hätte die Geschichte folgendermaßen erzählt: Ein Priester kam herunter nach Jericho, und als er das Elend und die Not der Stadt sah, kümmerte er sich nicht darum. Genau so war es mit dem Leviten; als er in die Stadt kam, sah er es und ging vorbei. Aber als ein Samariter, der sich auf einer Reise befand, nach Jericho kam, war er von Mitleid erfüllt, als er das Elend und die Not sah. Er ging und verkaufte etwas von seiner Habe und baute ein Heim für die Elenden und Armen. Dann setzte er sein Leben ein für diese armen Leute, pflegte sie und half ihnen. Als er den Leuten in Samaria von den Nöten dieses Volkes erzählte, gab es viele, die den Wunsch hatten, ihm zu helfen. Manche kamen nach Jericho und nahmen dort gut bezahlte Stellungen im Heim ein, und andere sandten ihr Geld, um zu helfen. Siehe, auf diese Weise wird die Liebe ausgebreitet, so daß eine ganze Gesellschaftsklasse bessere Lebensbedingungen findet. Gehe also, und tue dasselbe. Irgendwie können wir es uns nicht vorstellen, daß unser Herr die Geschichte auf diese Art erzählt hat. In dieser Fassung wird das Ich des Wohltäters und seiner Freunde wichtig und groß.

Liebe ist eine Beziehung zwischen Ich und Du. Sie können nicht durch Stellvertretung lieben. Wenn das wahr ist, folgt daraus, daß Sie nicht im Sinne des Neuen Testaments lieben können, wo Sie es nicht persönlich tun können. Hier ein Beispiel: In England gab es in den Tagen der Sklaverei Leute, die fühlten, daß die schwarzen Sklaven, die sie um sich sahen, ihre Nächsten waren. Diese Christen konnten ihre Auffassung von Christentum mit den Bedingungen der Sklaverei nicht vereinbaren. Deshalb ließen sie ihre eigenen Sklaven frei und fingen an, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, was schließlich dazu führte, daß die Sklaven in England freigesetzt wurden. Nichtchristen und Christen unterstützten diese Bemühungen.

Nun, diese Christen waren in einer konkreten Situation: Sie hatten selber Sklaven, und sie hatten die Sklaven anderer Briten als Nächste vor Augen. Man kann mit Recht sagen, daß ihre Aktion ihre Auffassung von Nächstenliebe darstellte. Nun lassen Sie uns annehmen, daß diese selben Leute Organisationen bildeten, Geld sammelten und Menschen nach Amerika aussandten, um dort den Sklavenhandel zu unterbinden. Die Handlung kann man nicht mehr mit Recht als Liebe zum Nächsten bezeichnen. Man kann es nur als Propaganda ansehen, die zur Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Landes wird. Sie haben die konkrete Situation, in der sie sich befanden, verlassen und sind dazu übergegangen, eine Idee zu verbreiten. Die Ich-Du-Beziehung ihrer eigenen britischen Situation besteht für sie nicht, wenn es um die amerikanische Situation geht.

Wir müssen uns klarmachen, daß das Gebot der Liebe weder in der Diakonie der Kirche noch im idealisierten Dienst der Philanthropie erfüllt wird. In unseren Tagen ist die Idee des Dienstes durch Idealisierung verfälscht. Wir müssen zwischen zwei sehr verschiedenen Sachen unterscheiden, die unter demselben Namen herumlaufen. Dienst ist doch zuerst die Arbeit eines Dieners, der auf den Befehl eines anderen handelt. Daran ist nichts Besonderes. Der am Tisch steht, bereit, sich von uns rufen zu lassen, ist ein Kellner, eine Bedienung. Das Diakonat in der Kirche ist gerade diese Art von Dienst. Die Diakonisse läuft heute hier - und morgen dorthin, hat hier einen Dienst zu tun und dort den anderen. Der Diakon im Sinne des Neuen Testaments tut dasselbe. So ist es mit jeder Gnadengabe innerhalb der Kirche. Jeder ist ein Diener, der der Gemeinschaft der Heiligen dient.

Er muß sich jederzeit von den Leuten rufen lassen, und dieser Dienst wird mehr oder weniger selbstverständlich angenommen.

Ein Wohltäter dient, wann und wo und wie und wem zu "dienen" es ihm gefällt. Dies und nicht das, hier und nicht dort. Jetzt und nicht später. Dieser Wohltäter arbeitet in medizinischen, Wohlfahrts-, Besserungs- und Erziehungsprogrammen mit. Diese Idealisierung des Dienstes ist dem Neuen Testament vollständig fremd. Unser Herr hat die Geschichte vom Samariter nicht zum Thema "Dienst", sondern zum Thema "Liebe" erzählt.

Nun müssen wir noch zwei weitere Entwicklungen im westlichen Christentum betrachten.

Erstens: der Kapitalismus. Das ist eine erhebliche Neuerung. Seine Grundlage ist die Idee, daß es nützlich und richtig ist, Geld mit Geld zu verdienen, nicht mit Arbeit. Am Vorabend der Reformation schon entstanden große Handelsgesellschaften in Europa. Aber erst mit den Entdeckungen im Bereich der Technik kamen die großen sozialen Veränderungen durch den Kapitalismus in Europa. Eisenbahnen, Dampfschiffe, Telegraphen, Telefone usw. waren wirtschaftlich völlig unbedeutend, wenn man nicht große Mengen von Kapital investierte. Gesellschaften mit begrenzter Haftung entstanden und Leute mit viel oder wenig Geld investierten, was sie hatten. Ihr einziges Anliegen war, daß ihr Geld möglichst sicher angelegt möglichst viel Dividenden bringen sollte. Die Direktoren hatten also darauf zu achten, daß die Dividende hoch genug war, um mit den Rivalen konkurrieren zu können. Auf diese Weise hat die ganze Struktur der Gesellschaft einen Wandel erfahren. In der Zeit vor dem Kapitalismus standen die kleinen Geschäftsleute und die Handwerker in einer persönlichen Beziehung zu ihren Angestellten, ob die nun gut oder schlecht war. Der Meister war Mitglied einer Zunft, und er hatte seine Lehrlinge, die er unterrichtete. Zwischen den beiden interessierten Parteien gab es keinen Aufsichtsrat. Seit der Kapitalismus auftrat, lebt der wirkliche Arbeitgeber, der Mann, der die Aktien hat, ohne Kenntnis der Leute, die er anstellt, weil dazwischen eine Institution, nämlich die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, steht. Die persönliche Beziehung zwischen dem wirklichen Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer ist erloschen.

Niemand wird leugnen, daß mit dem Aufkommen des Kapitalismus manche sozialen Werte verkümmert sind, zum Beispiel die Empfindung für menschlichen Kontakt. Weil wir nun gewohnt sind, im Schema des Kapitalismus zu denken, ist nichts leichter und verhängnisvoller für die Heiligen der Gegenwart, als dies Modell für ihr eigenes christliches Leben zu verwenden. Für Geld kann man sich dann Anteile am Leben der Kirche kaufen, indem man die Kirche so organisiert, wie das Kapital organisiert ist; dann können unsere Tätigkeiten wirklich weltweit werden. Ja, aber unser Tun verliert den persönlichen Kontakt, die persönliche Verantwortung. Und die Kirche wird eine große Organisation für Propaganda und bürgerliche Wohlfahrtsarbeit.

Zweitens: Als der Kapitalismus unter staatliche Kontrolle gestellt wurde, entwickelte sich der Wohlfahrtsstaat. Dieser ist natürlich nicht philanthropisch; denn er hat gelernt, daß es sich lohnt, mit der Wohlfahrt seiner Untertanen befaßt zu sein. Ein bißchen Wohltätigkeit für die unglücklichen Klassen war nicht genug. Wohlfahrt aller Art wird systematisch und vom Staat betrieben, indem er Steuern von den etwas besser gestellten Leuten nimmt. Die Kranken, die Armen, die Unbeschäftigten und die Verbrecher werden von Spezialisten "betreut". Irgendeine persönliche Beziehung zu diesen Unglücklichen braucht nicht zu entstehen. Der Staat hat es sogar geschafft, mit der Arbeitslosenversicherung, der Alterspension und den übrigen Sozialversicherungen die Beziehungen in den Familien aufzulösen. Wenn der Vater keine Arbeit hat, dann erwartet sein Sohn, daß er stempeln geht, und wenn die Mutter Witwe ist, dann erwartet die Tochter, daß die Mutter eine Pension bekommt.

Bitte, glauben Sie nicht, daß ich gegen die Idee des Wohlfahrtsstaates innerhalb der natürlichen Ordnung dieser Welt streiten möchte. Meine Frage ist nur, ob so ein System innerhalb der Gemeinschaft der Heiligen gedeihen kann. Kann die Idee des Wohlfahrtsstaates das Liebesgebot für Christen ersetzen? Hat die Kirche dasselbe Ziel wie der Wohlfahrtsstaat oder philanthropische Organisationen? Eindeutig nicht! Wenn die Mentalität des Wohlfahrtsstaates in die Kirche hineingenommen wird, dann wäre das für den einzigartigen Charakter der Kirche katastrophal und für ihre Glieder in der Welt auch.

Überall hört man, daß die Kirche in ihrer Liebe erkaltet ist, obwohl sie großartig Propaganda treibt. Die Antwort, die man normalerweise hört, ist diese: Man braucht noch mehr Wohlfahrtsorganisationen zur Hebung der Menschheit, noch mehr Maschinerie, um großartige Pläne für Hilfe zu planen, noch mehr Ausschüsse und Aufsichtsräte, um die Leistungen verschiedener Gruppen zu koordinieren. Aber das, was dem Menschen fehlt, und das, was er braucht, ist gerade die ausgestreckte, Hand, der persönliche Kontakt, wo Liebe nicht durch Stellvertretung geleistet wird. Er braucht den Christen, der selber etwas tut, hier und jetzt. Nicht, weil er seinem Nachbarn gerne predigen möchte und versucht, einen großartigen Eindruck zu machen, das wäre Propaganda und nicht Verkündigung; nicht, weil er ihm zu zeigen wünscht, wie gut die Christen sind, denn das wäre Heuchelei; auch nicht, weil er versucht, ihm die Liebe Gottes zu zeigen, denn die kann man nur in Christus sehen. Es gibt nur ein einziges Motiv: Du sollst Gott, Deinen Herrn, lieben; und dazu gehört auch diese persönliche und individuelle Verantwortung: Du sollst Deinen Nachbarn lieben wie Dich selbst.

Das Wort der Verkündigung allein ist das Wort Gottes, und es bewirkt, was Gott will, wenn man es ungestört läßt. Jeder Versuch von unserer Seite, das gepredigte Wort noch effektiver zu machen, als es von sich selbst ist, macht die Sache falsch. Wenn wir versuchen, dem Wort Effektivität zu verleihen, dann wird die Verkündigung zur Propaganda und die Bekehrungsarbeit Proselytismus. So hat die Kirche als Gruppe keinen anderen Weg, als das Wort in ihrer nichtchristlichen Umgebung zu verkündigen und es dabei zu belassen, indem sie glaubt, daß Gott sein Wort wann und wo es ihm gefällt, wirksam werden läßt.

Auf der anderen Seite zeigt sich christliche Liebe im Gehorsam von Menschen, die auf die Not antworten, mit der sie innerhalb der natürlichen Ordnung konfrontiert werden. Man sollte dies nie mit der Pflicht der Kirche, das Evangelium zu verkündigen, verbinden, und man sollte niemals versuchen, es zu delegieren, Liebe durch organisierte Stellvertretung zu leisten. Die Kritik von Nichtchristen an der Mission hat sich immer auf diesen Punkt konzentriert, mit Recht. Das Gebot, den Nächsten zu lieben, kann niemals so erfüllt werden, daß es gleichzeitig auch noch als Mittel dient, ihn für unsere Religion zu interessieren oder ihn dazu zu bekehren.